Die Antworten wurden von den Initiatorinnen des Aufrufs verfasst und geben nicht unbedingt die Position aller Unterzeichner*innen wieder.
Die klassische Definition des Begriffs stammt von der Vegan Society und wir halten sie für gut anwendbar (Link). Demnach zielt Veganismus auf die Emanzipation der Tiere von der menschlichen Ausbeutung ab. Praktisch bedeutet das, auf die Benutzung von Tieren für die Herstellung von Lebensmitteln, Kleidung oder anderen Produkten zu verzichten, soweit das möglich und praktikabel ist, und stattdessen Alternativen zu suchen und zu stärken.
»So weit wie möglich und praktikabel« bedeutet, dass es durchaus Lebensumstände und Situationen geben kann, in denen Menschen Tierprodukte doch benutzen und sich trotzdem als Veganer*innen verstehen können. Es ist aus unserer Sicht wichtig, reale Schwierigkeiten ernstzunehmen – aber diese auch klar zu unterscheiden von persönlichen Vorlieben oder bloßer Bequemlichkeit.
Beim Veganismus geht es aus unserer Sicht im Kern um Gerechtigkeit. Das Ziel ist nicht, dass einzelne Menschen sich perfekt verhalten – was in einer von Unterdrückung und Ausbeutung geprägten Welt ohnehin unmöglich ist –, sondern dass wir als Gesellschaft auch Tiere als wertvolle Individuen mit eigenen Bedürfnissen respektieren und unser Ernährungssystem ebenso wie unsere Wissenschaft, unsere Kultur und letztlich alle Bereiche unseres Lebens entsprechend umgestalten.
Wenn man die Definition von der Vegan Society nimmt – so weit wie möglich und praktikabel auf Produkte aus Tierausbeutung zu verzichten –, dann macht der Satz gar keinen Sinn, denn dann ist ja mit »vegan« sowieso nur gemeint, zu tun was ich kann und nicht mehr.
Diese Antwort ist aber zugleich etwas zu einfach, denn sie verwischt wichtige Unterschiede und Diskussionspunkte. Dreierlei ist uns hier wichtig:
1. Viele Gründe, die (in Industrieländern) gegen eine pflanzliche Ernährung vorgebracht werden, können bei näherem Hinsehen nicht überzeugen. Eine gesunde pflanzliche Ernährung muss zum Beispiel nicht teurer sein als andere Ernährungsformen, im Gegenteil ist sie oft günstiger. Und wenn eine Person meint, sie könne sich nicht pflanzlich ernähren, weil sie viel unterwegs ist oder keine Zeit hat zu kochen, dann beschreibt sie eher Gewohnheiten und Prioritätensetzungen als einen absoluten Sachzwang. Es gibt viele Menschen, die auch mit sehr wenig Geld, sehr wenig Zeit, gesundheitlichen Einschränkungen / Unverträglichkeiten und unter sonstigen widrigen Bedingungen eine pflanzliche Ernährung umsetzen, weil es ihnen wichtig ist.
2. Es ist nicht für alle Menschen gleichermaßen einfach, sich pflanzlich zu ernähren. Es gibt Menschen, für die es aufgrund persönlicher Umstände oder Erkrankungen sogar ausgesprochen schwierig, aufwändig und kräftezehrend oder sogar gefährlich sein kann. Ein guter Kurzeinblick dazu ist hier (Link Twitter-Thread). Das zu ignorieren, bedeutet ableistische Fehlannahmen zu bestärken.
Wenn es für manche Menschen schwierig ist, sich pflanzlich zu ernähren, bedeutet das auch, dass ihre Motivation dafür höher sein muss als bei Menschen, für die es einfach ist. Es gibt jede Menge herausfordernde Lebenssituationen, in denen es schon alle Kraft kostet, überhaupt klarzukommen, und es gibt viele wichtige Themen und politische Ziele, die im Leben von Menschen Raum einnehmen können. Es ist daher klar, dass nicht alle Menschen in jeder Lebenssituation die jeweils nötigen Ressourcen aufbringen können, um auf eine pflanzliche Ernährung umzustellen.
3. Daraus folgt nicht, dass Veganismus im Sinne einer Befreiung der Tiere kein wichtiges und dringliches Ziel ist. Es zeigt vielmehr, wie zentral dafür der gesellschaftliche Wandel ist. Wir wollen nicht in einer Gesellschaft leben, in der es für einige Menschen schwierig ist oder Motivation erfordert, sich nicht an Ausbeutung und Unterdrückung zu beteiligen. Das Ziel der Tierbefreiungsbewegung ist eine Gesellschaft, die strukturell gerecht gegenüber allen fühlenden Wesen eingerichtet ist. Und wir wünschen uns, dass sich alle dafür einsetzen oder die Bewegung solidarisch begleiten, so weit sie das gerade können.
Nein. Es wäre absurd, medizinische Hilfsmittel nicht zu nutzen, die Leben retten und schwere Krankheiten verhindern können. Das fiele auch nicht unter unser Verständnis von Veganismus als Praxis, so weit wie möglich und praktikabel auf Produkte zu verzichten, die aus Tierausbeutung stammen.
Allerdings sprechen wir uns stark dafür aus, gewaltfreie Alternativen zu Tierversuchen weiter auszubauen und zum Standard in der Medizin- und sonstigen Forschung zu machen. Denn Tiere gefangenzuhalten, sie teils äußerst schmerzhaften Experimenten auszusetzen und danach zu töten, damit wir unsere Krankheiten besser behandeln können, ist schlicht ungerecht. Für viele Forschungsfelder gibt es längst andere Wege und für die verbleibenden müssen wir mit hoher Priorität daran arbeiten.
Außerdem finden wir es sehr wichtig, dass die Prävention von Krankheiten und Pandemien einen höheren Stellenwert bekommt. Bei COVID-19 sind Impfungen – neben anderen Maßnahmen – zur Eindämmung zwar unerlässlich. Solange aber Menschen in großem Stil Ökosysteme zerstören und Tiere ausbeuten, erhöhen sie genau damit das Risiko für neue Pandemien, das ist also extrem unvernünftig.
Gegenfrage: Meinst du, deine Ernährung wäre eine rein private Angelegenheit, die mit gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen nichts zu tun hätte? Dann bist du wohl einem neoliberalen Märchen von der individuellen Freiheit der Konsument*innen aufgesessen.
Klar, Ernährung ist ein sehr persönliches, geradezu körperlich-intimes Thema. Gleichzeitig kommen unsere Nahrungsmittel großteils aus den Industrieanlagen von Konzernen, die über Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen von Menschen bestimmen und auch darüber, welche Produkte uns überhaupt zur Verfügung stehen. Die Landwirtschaft nutzt über ein Drittel der Landfläche unseres Planeten. Und sie produziert und tötet zig Milliarden Tiere im Jahr. Das alles ist hochpolitisch. Also lasst uns Wege finden, wie wir uns zu diesen Verhältnissen positionieren – primär als politische Bewegungen, ein Stück weit aber auch jede*r im persönlichen Alltag. Und lasst uns eine Gesellschaft aufbauen, in der unsere Teilhabe nicht quasi-automatisch auf Kosten anderer geht.
Veganismus und whiteness in Verbindung zu bringen, scheint vielen auf den ersten Blick naheliegend: Manche weißen B-Promis versuchen, sich über vegane Ernährung zu profilieren und so manche Tierbefreiungs-Demo ist ziemlich weiß dominiert. Der Begriff »vegan« wurde von einem weißen Briten geprägt. Dann ist ja alles klar, oder?
Nö. Abgesehen davon, dass pflanzenbasierte Ernährung und ethische Prinzipien für Mensch-Tier-Verhältnisse in einigen Teilen der Welt erst durch weiße Kolonialisten zerstört wurden, sind Veganismus und ein Interesse an gesellschaftlicher Tierbefreiung auch aktuell keine weiße Domäne. Wenn weiße Stimmen hier dominieren, dann weil sie überrepräsentiert werden und Schwarze Stimmen und Aktivist_innen of Color ignoriert werden. Vom »Whitewashing der veganen Geschichte« spricht SchwarzRund in ihrem Artikel im Missy Magazine: Mein Fett is(s)t vegan.
»Dass der Veganismus nicht nur Sache der Weißen ist«, schreibt auch Michaela Dudley in einer Kolumne zu Afro-Veganismus.
Detaillierter ausgearbeitet sind Schwarze Perspektiven auf Veganismus und Nahrungsgerechtigkeit z.B. auf dem Blog und in der Anthologie von A. Breeze Harper, Sistah Vegan. Sehr facettenreich sind auch die Arbeiten zu Black Veganism der Schwestern Aph Ko und Syl Ko, z.B. die Bücher Aphro-Ism und Racism as Zoological Witchcraft. Teils deutschsprachige, teils englischsprachige Interviews zu intersektionalem Veganismus findet Ihr außerdem beim Vegan Rainbow Project.
Glücklicherweise sind wir nicht in der Position, die eine Wahrheit über gute Lebensmittelherstellung für die ganze Welt pachten zu wollen oder zu können. Kulturell und regional kann es selbstverständlich Unterschiede darin geben, was machbar und angemessen ist. Und sowieso wäre es anmaßend und geschichtsvergessen, aus einem deutschsprachigen Diskurs heraus der Welt etwas vorschreiben zu wollen.
Wir sind uns unserer Positioniertheit in einem bestimmten Kontext bewusst. In diesem Kontext finden unsere Überlegungen statt und an unsere Genoss*innen in diesem Kontext ist dieser Aufruf gerichtet. Aus diesem Kontext heraus sind wir der Überzeugung, dass strukturelle Gewalt und Unterdrückung gegenüber Tieren unerträglich ist. Wir wissen, dass diese Gewalt vor unserer Haustür enorme Ausmaße hat und auch von hier in andere Weltteile exportiert wird. Wir haben keine fertigen Lösungen z.B. für neue Formen der Subsistenzwirtschaft in trockenen Steppenregionen der Welt und behaupten auch nicht, diese liefern zu können. Sie müssen vor Ort gefunden und gestaltet werden. Über verschiedene regionale Kontexte hinweg gilt es, sich respektvoll – das heißt auch solidarisch-kritisch – über jeweilige Überzeugungen, Werte und Gesellschaftsprinzipien auszutauschen. Das heißt also auch die eigenen Überzeugungen ehrlich zu kommunizieren und nicht dem Gegenüber von vorneherein abzusprechen, diese zu verstehen oder ebenso an Veränderung interessiert zu sein. Augenhöhe bedeutet weder oktroyieren noch aufgrund romantischer Vorstellungen indigener Identität(en) Diskurse nicht zu führen. Dass dies schwierig ist, ist klar.
Darin sehen wir aber absolut keinen Grund, die profitorientierte, industrialisierte Vernutzung von Milliarden Lebewesen in niedersächsischen oder brandenburgischen Tierhaltungsanlagen zu tolerieren oder Tiere generell nicht als leidensfähige Subjekte anzuerkennen, mit denen wir uns angesichts ihrer totalen Ausbeutung solidarisieren.
Natürlich können bei jedem linken Event Kritikpunkte gefunden werden, egal wie gut durchdacht es ist. Wir können nicht alle alles auf dem Schirm haben. Wir machen Fehler und wir nutzen alle ständig Produkte und Strukturen, die unter extrem fragwürdigen Bedingungen entstanden sind. Insofern fordern wir nicht, mit dem moralischen Zeigefinger auf Orgas zu zeigen, die kein komplett veganes Buffet gestellt haben. Wir denunzieren ja auch keine Orgas, die keine Toiletten für alle (ohne Genderzuweisung) bereitstellen. Es kann auch nicht jede sinnvolle Idee in jedem Kontext einfach durchgeboxt werden. Aber wir wünschen uns, dass vegane Verpflegung zum Standard wird, dass Menschen das bei der Organisation von Veranstaltungen mitdenken – und sehr gute Gründe haben, wenn sie sich dagegen entscheiden.
Wenn eine vollständig vegane Verpflegung noch üblicher würde, wäre das aus vielen Gründen für viele Leute angenehm: Als politisches Signal gegen Tierausbeutung, aber auch gegen Naturzerstörung, Artensterben und Klimakatastrophe. Als mit sehr vielen religiösen Essensvorschriften oder körperlichen Unverträglichkeiten kompatible Ernährung, die auch bei sengender Sonne auf Aktionscamps relativ sicher bleibt. Und als Willkommenszeichen an diejenigen von uns, denen das Thema nahegeht und denen es weh tut, Körper oder aus Körpern gewonnene Produkte in der Küfa (ehemals VoKü, wortwörtlich Küche für alle) zu sehen. Das wird kein absoluter Konsens unter allen linken Leuten werden, aber was ist das schon? Zumindest als Weg zu einer neuen Selbstverständlichkeit würden wir es sehr begrüßen.
In unserem Aufruf geht es gar nicht primär um Konsum. Konsum und Produktion als losgelöst zu denken, wäre unsinnig. Veganismus ist nicht primär eine Ernährungsweise, sondern der Sammelbegriff für Alltagspraxen, die darauf abzielen, die Ausbeutung der Tiere zu beenden. Es geht uns um eine gesellschaftliche Veränderung, nicht um persönliche Moral. Unser Alltagshandeln und unsere politischen und wirtschaftlichen Institutionen bedingen sich wechselseitig und wir wollen an möglichst vielen Punkten ansetzen, um auf einen radikalen Wandel hinzuwirken.
Tiere und ihre Körperprodukte nicht zu essen, kann dabei selbst mehr als ein Konsumboykott sein. Es drückt zugleich aus, dass fühlende Wesen keine bloßen Ressourcen und Waren sind, zu denen sie aktuell in der kapitalistischen Wirtschaft degradiert werden.
Dass Veganismus eine Rolle in einem radikalen Antikapitalismus spielen kann, hat auch Angela Davis im Rahmen der Empowering Women of Color Conference 2012 klargestellt (deutsche Übersetzung folgt darunter):
»I’m sometimes really disappointed that many of us can assume that we are these radical activists but we don’t know how to reflect on the food we put in our own bodies. We don’t realize the extent that we are implicated in the whole process of capitalism by participating uncritically in the food politics offered us by the great corporations.
I usually don’t mention that I’m vegan but that has evolved… I think it’s the right moment to talk about it because it is part of a revolutionary perspective – how can we not only discover more compassionate relations with human beings but how can we develop compassionate relations with the other creatures with whom we share this planet? And that would mean challenging the whole capitalist industrial form of food production.«
»Ich bin manchmal richtig enttäuscht davon, dass viele von uns sich für diese radikalen Aktivist*innen halten, aber nicht darüber nachdenken, welche Nahrung wir unseren eigenen Körpern zuführen. Wir begreifen nicht, in welchem Ausmaß wir in die kapitalistischen Abläufe verstrickt sind, indem wir unkritisch bei der Lebensmittel-Politik mitmachen, die die großen Konzerne uns anbieten.
Normalerweise erwähne ich nicht, dass ich vegan bin, aber das hat sich weiterentwickelt… Ich glaube, jetzt ist der richtige Moment, darüber zu sprechen, weil es Teil einer revolutionären Perspektive ist: Wie können wir von Mitgefühl geprägte Beziehungen nicht nur zu Menschen aufbauen, sondern auch zu den anderen Geschöpfen, mit denen wir diesen Planeten teilen? Und das würde bedeuten, die gesamte kapitalistisch-industrielle Form der Lebensmittelproduktion herauszufordern.«
(Angela Davis 2012)
Am einfachsten ist es natürlich bei sich selbst. Schritt für Schritt im Alltag alles zu reduzieren was mit Tierausbeutung zu tun hat, ist ein guter Anfang. Manchen fällt es aber auch einfach direkt jegliche Gewalt aus dem Leben »zu verbannen«. Wichtig ist es allerdings, dass sich viele Menschen politisch engagieren, denn eine Änderung des individuellen Konsums spielt zwar eine Rolle, es gilt jedoch das System zu ändern. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, schau einfach mal im Internet welche Gruppen bei dir in der Nähe aktiv bzw. online aktiv sind und gehe mal zu einem Treffen. Verschiedene Gruppen sind natürlich auch unterschiedlich, deswegen probiere ruhig rum bis du die passenden Mitstreiter*innen gefunden hast.