Ein Aufruf an unsere Genoss*innen
Als Linke hinterfragen wir den Status quo: Wir bekämpfen strukturelle Ausbeutung und Gewalt, reflektieren Selbstverständlichkeiten und untergraben starre Traditionen. Auf Dauer ist keine Norm vor uns sicher. Wir analysieren und kritisieren Formen der Unterwerfung, Marginalisierung und Ausgrenzung. Diese Grundsätze verbinden uns über unsere vielen Strömungen und Ansätze hinweg. Bei all unseren Unterschieden wollen wir solidarisch miteinander sein. Das heißt unter anderem, die Forderungen und Anliegen anderer Gerechtigkeitsbewegungen mitzudenken und zu unterstützen – oder die Kämpfe direkt zu verbinden. Die Idee, die Verdammten dieser Erde trotz all unserer Unterschiede zu vereinen, trägt emanzipatorische Projekte seit eh und je. Dass wir einander fremd sind, ist für uns kein Grund, nicht zusammen zu kämpfen. Wir nähern uns an, streiten uns auch; doch wo immer es gelingt, machen wir Politik auf Grundlage unserer Gemeinsamkeiten.
Nun gibt es von jeher auch Linke, die Solidarität mit jenen üben, mit denen sie sich nicht gemeinsam organisieren und keine politische Debatte führen können. Mit den ganz Anderen. Mit jenen, von denen wir uns scheinbar abgrenzen müssen, um als vollwertige Menschen zu gelten:
Solidarität mit den Tieren
„So lange ich denken kann, lag der Ursprung meiner Revolte gegen die Mächtigen immer in meinem Schrecken über das Leid, das den Tieren angetan wird“, schrieb die Kämpferin der Pariser Kommune, Louise Michel. Auch Rosa Luxemburg sah sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit den unterdrückten und ausgebeuteten Tieren. Sie schildert in einem ihrer Briefe aus dem Gefängnis, wie ihr die Tränen herabrannen, als sie Zeugin von Gewalt gegen einen Lastbüffel wurde: „wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht“.
Heute sehen wir ein krasses Missverhältnis zwischen einer Industrie, welche die Ausbeutung tierlicher Körper auf ein nie gekanntes Niveau perfider Perfektion gehoben hat, und einer Linken, welche die Hauptbetroffenen dieser systematischen Gewalt zu häufig ignoriert.
Es gibt viele gute Gründe, die Tierindustrie politisch zu bekämpfen – die Massenproduktion von Fleisch, Milch und Eiern heizt die Klimakatastrophe an, schädigt Ökosysteme lokal und global und ist für massive Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen verantwortlich. Aber darüber hinaus müssen wir die Situation der Tiere wahrnehmen, die diesem System vollständig ausgeliefert sind.
Ein Herrschaftsverhältnis par excellence
Die moderne Nutzung von Tieren bedeutet die totale Unterwerfung des Lebens unter die Ratio des Kapitals. Einige Schlaglichter am Beispiel der Hühner: Die Zucht von Hochleistungsrassen legt den Tieren quälende körperliche Eigenschaften in die Gene. Anders ist das Wachstum vom 40-Gramm-Küken zum kiloschweren Broiler in vier bis sechs Wochen nun einmal nicht zu haben. Ihr kurzes Leben verbringen sie in hochtechnisierten Hallen ohne Tageslicht zwischen rund 40.000 Leidensgenoss*innen. Ausmisten ist Bauernhofromantik: Gereinigt wird der Stall das erste Mal, nachdem die Tiere zur Schlachtung abgeholt sind, alles andere wäre zu aufwändig. Nach einigen Stunden im Käfig-LKW erreichen die Hühner eine moderne Variante der ältesten Fließband-Fabrik der Welt: den Schlachthof. Ein Fleischkonzern, der auf sich hält, löscht in jeder solchen Anlage mindestens 100.000 Leben aus – am Tag. Was von den konsumierten Körpern übrig bleibt, landet auf der Müllhalde. Geolog*innen sagen, dass die dort gesammelten Hühnerskelette als prägendes Fossil die Erdschicht des Anthropozäns kennzeichnen werden.
Die Details unterscheiden sich, sind in der Milch- und Eierproduktion, in der Schweinemast oder der Pelztierzucht aber nicht weniger grotesk. Und entgegen verbreiteten Vorstellungen sieht es in Biobetrieben – die ohnehin nur einen kleinen Bruchteil der verkauften Tierprodukte erzeugen – in zentralen Hinsichten nicht anders aus. Auch auf jedem tiernutzenden Ökohof werden Tiere mit ihren Interessen und Vorlieben den Bedarfen der Produktion untergeordnet. Wenn wir am Beispiel der Hühner bleiben, so werden sie auch im Bio-Bereich in Gruppen von einigen Hundert bis zu mehreren Tausend Tieren gehalten, wo sie keine feste Sozialstruktur aufbauen können. Die so genannten Legehennen legen aufgrund der Züchtung mehr Eier, als gesundheitlich gut für sie wäre. Kein wirtschaftlich genutztes Huhn bekommt die Gelegenheit, die eigenen Küken aufzuziehen – auch Bio-Hühner werden in Brutschubladen ausgebrütet. Und in welchen Wirtschaftszweig wir auch schauen: Die Tiere werden gewaltsam getötet, in aller Regel schon nach einem Bruchteil ihrer möglichen Lebensdauer.
Das Tier als Prototyp des Anderen
Die Strategie der Entmenschlichung, der Bezeichnung von Menschen als ‚nicht vollwertig‘, als ‚Tier‘ oder ‚Stück Fleisch‘ hat eine lange Tradition in rassistischen, sexistischen und ableistischen Unterdrückungsverhältnissen. Daher das linke Grundprinzip, Menschen niemals ihre einzigartige Würde als Menschen abzusprechen. Die Forschung z.B. zu Rassismus und Sexismus zeigt aber auch Zusammenhänge zwischen der Herabwürdigung von Tieren und der Unterdrückung von Menschen. Auf dem Weg in eine gerechte Gesellschaft gilt es, all diese Unterdrückungsformen hinter uns zu lassen.
Natürlich unterscheiden wir Menschen uns in wichtigen Hinsichten von anderen Tieren. Manche dieser Unterschiede sind auch für linke Kämpfe relevant – zum Beispiel gehört zur Befreiung aus Unterdrückung für Menschen dazu, der eigenen Stimme Geltung zu verschaffen und die eigene Identität und die eigenen Ziele im politischen Diskurs selbst zu definieren, anstatt nur von anderen vertreten zu werden. Diese Fähigkeit haben die Tiere nicht.
Jemand, nicht etwas
Kein Mensch kann aber abstreiten, dass alle fühlenden Lebewesen grundlegende Bedürfnisse teilen. Wer einem Tier gegenüber steht, sieht jemanden, nicht etwas. Jemand anderen, sicher – aber seit wann sähe eine Linke im Anderssein eine Legitimation für Ausbeutung und Unterwerfung? Aus einer Perspektive der Gerechtigkeit ist schlicht nicht begründbar, warum tierliche Grundbedürfnisse den Interessen der Agrarkonzerne oder überhaupt irgendwelchen wirtschaftlichen Logiken untergeordnet werden sollten.
Allein aufgrund ihres Tierseins werden Milliarden fühlender Lebewesen heute ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Solidarität und Gerechtigkeit sehen anders aus. Wir lehnen Ausbeutung und systematische Gewalt grundsätzlich ab und stehen konsequenterweise fest an der Seite aller Unterdrückten. In der Befreiung der Tiere und der Emanzipation der Menschen sehen wir ein und denselben Kampf.
Deshalb:
Lasst uns Tiere in unsere Analyse und Kritik stets einbeziehen!
Lasst uns miteinander über das Spektrum unserer Kämpfe hinweg solidarisch sein!
Lasst uns die Ablehnung von Gewalt und Ausbeutung gegenüber fühlenden Lebewesen als gemeinsame politische Praxis leben!
Lasst uns zusammen kämpfen – für eine antikapitalistische Agrarwende, für ein zukunftsfähiges Verhältnis zur Natur, und ganz klar auch: für die Tiere.
Worüber wir mit Euch diskutieren wollen: Unsere Fragen an unsere Bewegungen
Veganismus wird oft missverstanden als individuelle Lifestyle-Entscheidung hipper Großstädter_innen. Wie können wir Veganismus stattdessen als politische Praxis fassen, die sich effektiv gegen die systematische Gewalt und Ausbeutung fühlender Lebewesen richtet? Als eine Haltung, die menschliche und tierliche Bedürfnisse zusammendenkt – im eigenen Verhalten ebenso wie in der kollektiven Organisierung? Damit einhergehend:
1.
Wie können wir die Auswirkungen für Tiere konkret mit einbeziehen beim Schreiben von Aufrufen und Papieren, wenn es z.B. um Klimakatastrophe, Umweltzerstörung, Ausbeutung oder Gewalt im Kapitalismus geht – um immer sichtbar zu machen, dass nicht nur Menschen zu den Opfern des gegenwärtigen Gesellschaftssystems gehören?
2.
Wie befreien wir uns von einem Denken in den Kategorien der Spezies, in dem das individuelle Tier lediglich als ‚Exemplar‘ herhält? Was verändert sich in unseren Analysen und Aktionen gegen Umweltzerstörung und Artensterben, wenn wir einzelne Tiere als Lebewesen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen anerkennen?
3.
Können wir Veganismus als allgemeines Prinzip bei Veranstaltungen etablieren, die wir als linke Bewegungen organisieren – nicht nur bei Camps, sondern auch bei Workshops, Veranstaltungen in Seminarhäusern, Straßenfesten? Als Statement gegen Tierausbeutung und Umweltzerstörung, aber auch aus Rücksicht auf diejenigen von uns, die sich dem Thema wirklich öffnen und für die es schwer erträglich ist, ständig mit der als normal verkauften Gewalt in Form von getöteten und verarbeiteten Tierkörpern konfrontiert zu sein?
4.
Wie können wir für eine Menschenwürde streiten, die sich nicht durch die Abgrenzung von den unterworfenen anderen Tieren definiert?
5.
Wie können wir den veganen Ökolandbau stärken, um zukunftsfähige und weniger gewaltvolle Alternativen zur herrschenden Agrarindustrie zu etablieren?
6.
Was würde sich wohl in unserer Gesellschaftsanalyse tun, wenn in linken Lesekreisen öfter einmal Texte der kritischen Mensch-Tier-Studien gelesen würden (zum Beispiel die soziologischen Grundlagentexte von Birgit Mütherich, die feministische Kritik der Fleischindustrie von Carol J. Adams, die antirassistischen Arbeiten zu Black Veganism von Aph Ko und Syl Ko)?
7.
Wie können wir über die Grenzen von Staaten und linken Strömungen hinweg Solidarität organisieren, wenn Aktive der Tierbefreiungsbewegung wieder einmal mit Repression überzogen werden?
8.
Was hält viele von uns davon ab, die Normalität der allgegenwärtigen Tötung, Zerstückelung und Vernutzung tierlicher Körper zu hinterfragen? Woher kommt die Angst davor, das Leid und das Unrecht der Tierindustrie an sich heran zu lassen? Welche Kraft könnten wir daraus ziehen, wenn wir dieses abwehrende Unbehagen in Wut und Widerstand verwandeln würden?
Wir freuen uns auf eine solidarische Diskussion!
Tobi Rosswog (Bildungskollektiv imago), Tino Pfaff (Umweltaktivist), Stefan Sander (Sozis für Tiere), Saskia Meyer (Ernährungswissenschaftlerin, Aktivistin), Sarah Heiligtag (Hof Narr), Philipp Bruck (Mitglied der Bremischen Bürgerschaft, Bündnis 90/Die Grünen) Peter (aktiv bei Ende Gelände), Melanie Wery-Sims (DIE LINKE), Matthias Schmelzer (Netzwerk Ökonomischer Wandel und Konzeptwerk Neue Ökonomie), Martina Buchmeier Gallegos (Kollektiv Gleiche Brust für Alle), Marlene Fuchs (aktiv bei Ende Gelände), Marie (FAU Dresden), Lina Gröttrup (Queerfeministische Aktivistin in diversen Kollektiven), Jonas Korn (KlimaKollektiv Lüneburg), Jakob Schäuffelen (Videograph, Aktivist, Klimaliste Berlin), India Kandel (Queere und feministische Aktivistin), Hilal Sezgin (Publizistin), Helge Peukert (attac, Uni Siegen), Hannah Engelmann (I.L.A.-Kollektiv), Friedrich Kirsch (Klimagerechtigkeit Kassel), Friederike Schmitz (Gemeinsam gegen die Tierindustrie), Friederike Habermann (Netzwerk Oekonomischer Wandel – NOW), Ferat Kocak (Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, DIE LINKE), Elvyn Bliss (Ende Gelände), Didem Aydurmus (DIE LINKE), Daniel Hellmann (Künstler und Aktivist, u.a. als Soya the Cow), Carina Tränkner (Wendo-Trainerin), Axel Lüssow (Bündnis 90/Die Grünen), Anne Weiss (Schriftstellerin)